Sozialwissenschaften in Zeiten des Zusammenbruchs
11. Fachtagung der Deutschen Nachwuchgesellschaft für Politik- und Sozialwissenschaft
05.-07. September 2025
Vom 05.-07. September 2025 wird an der Ruhr-Universität Bochum die 11. studentische Fachtagung der DNGPS in Kooperation mit dem FSR Sozialwissenschaften unter der Überschrift Sozialwissenschaft in Zeiten des Zusammenbruchs stattfinden.
Willkommen sind Beiträge von Bachelor- und Masterstudierenden sowie Promovierenden (in der Anfangsphase) aus allen Politik- und Sozialwissenschaften. Abstracts mit maximal 300 Wörtern auf Deutsch oder Englisch können zusätzlich zu einer kurzen Selbstbeschreibung bis zum 15. Juni 2025 an fachtagung@dngps.de gesendet werden. Die allgemeine Konferenzsprache ist Deutsch, Vorträge können auch auf Englisch gehalten werden.
Die Teilnahme ist sowohl für Mitglieder als auch Nicht-Mitglieder der DNGPS kostenfrei. Für Panelist*innen, die Mitglied in der DNGPS sind, besteht die Möglichkeit einer Fahrtkostenübernahme durch die DNGPS.
Call For Papers
Kladderadatsch! Die Polykrise ist auch für Politik- und Sozialwissenschaftler*innen in Deutschland kein abstrakter Forschungsgegenstand mehr. Krisendiagnosen werden zunehmend durch Untersuchungen über den globalen, ökologischen und gesellschaftlichen Zusammenbruch abgelöst. Auf unserer diesjährigen Fachtagung möchten wir sowohl sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf den Zusammenbruch als auch Reflexionen und Verortungen der Sozialwissenschaften in der gegenwärtigen Situation Raum geben.
Diskutiert werden sollen theoretische und empirische Arbeiten, die sich mit der derzeitigen Weltlage auseinandersetzen. Es sind sowohl Bestimmungen des Zusammenbrechenden als auch dessen, was nach dem Zusammenbruch neu entsteht, gefragt. Das beinhaltet auch die Frage, welche Rolle Sozialwissenschaften in gegenwärtigen Gesellschaften spielen und welche Verantwortung sie tragen.
Demokratische Regression
In den letzten Jahren zeichnet sich weltweit eine zunehmende demokratische Regression ab. Autoritäre, rechtspopulistische und illiberale Tendenzen gewinnen an Einfluss, während demokratische Institutionen unter Druck geraten. Die massiven Angriffe auf das politische System der USA durch Donald Trump haben gezeigt, wie schnell demokratische Strukturen an ihre Grenzen gebracht werden können. Diese Entwicklungen sind eng mit gesellschaftlichen Polarisierungen und extremer sozialer sowie wirtschaftlicher Ungleichheit verbunden.
Ermöglicht wird die autoritäre Machtübernahme durch eine strategische Zusammenarbeit und das “autocratic learning” rechter Akteure. Burschenschaften, Jugendorganisationen, rechte Thinktanks und die Identitäre Bewegung (IB) in Deutschland und Österreich spielen eine Schlüsselrolle als Vorfeldorganisation der parlamentarischen Rechten. Reichsbürgerbewegung und rechtsradikale Netzwerke sind zunehmend strategisch in Parteien, Sicherheitsapparaten und der Justiz verankert. Und auch auf internationaler Ebene kooperieren rechte und autoritäre Kräfte: Eine »Autoritäre Internationale« erstreckt sich unter dem Einfluss von Russland von rechtspopulistischen Parteien in Europa bis zu den Regierungen in Italien, Ungarn, Argentinien und den USA. Zeichnet sich in dieser Konstellation ein neuer Faschismus ab? Welche Rolle übernehmen konservative Parteien und religiöser Fundamentalismus als Ermöglicher oder Vetospieler in liberalen Demokratien?
Digitale Infrastruktur und Demokratie
Durch die Nähe zu Donald Trump gerät die C-Suite der Big Data und Tech Firmen in den Mittelpunkt des politikwissenschaftlichen Diskurses.. CEOs wie Elon Musk, Mark Zuckerberg, Peter Thiel und Jeff Bezos stehen dabei nicht nur für eine Verquickung von politischer und ökonomischer Macht, sondern auch für eine neue Ideologie des anarcho-kapitalistischen Techno-Libertarismus. Steueroasen, Staatsabbau und Demokratieabbau verbinden sich mit antisemitischen, antifeministischen und anderen rechts-ideologischen Versatzstücken. Neben einer antidemokratischen politischen Haltung verfügt diese kleine gesellschaftliche Klasse quasi-souverän über die persönlichen Daten und große Teile der weltweiten öffentlich-digitalen Infrastruktur. Eine (erfolgreiche) europäische Antwort, um digitale und Datensouveränität herzustellen, ist bis jetzt ausgeblieben. Den demokratischen Staaten Europas fehlt die Infrastruktur, um die eigenen Bürger*innen vor dem Zugriff amerikanischer Unternehmen und Geheimdienste zu schützen. Zudem gibt es keine wirksamen Bestrebungen durch Digitale Commons und öffentlich- rechtliche Alternativen, die Hegemonie außereuropäischer sozialer Netze zu bekämpfen.
Offen bleiben Fragen über die herrschende Ideologie des Silicon Valley – insbesondere hinsichtlich der politischen und ökonomischen Folgen und Demokratie gefährdenden Zukunftsvisionen dieser Ideologie. Auch Möglichkeiten, den näher rückenden dystopischen Zuständen mit demokratischen Mitteln zu begegnen, sind gefragt: Welche digitale Öffentlichkeit brauchen liberale Demokratien?
Die gesellschaftliche Sanktion von Geschlecht
Tradwives auf Social Media, Kulturkampf ums Gendern, das Schreckgespenst der Frühsexualisierung: »Geschlecht« spielt in aktuellen rechten Diskursen und Bewegungen eine zentrale Rolle. Gerade ausgeprägte Queerfeindlichkeit ist ein verbindendes Element vieler sonst verschiedener rechter Strömungen und ist bis in die politische Mitte anschlussfähig. Im Fahrwasser solcher Diskurse versucht Trump, auf die Rückabwicklung von Trans-Rechten abzielend, Zweigeschlechtlichkeit gesetzlich festzuschreiben und auch in Deutschland wollen mehrere Parteien das gerade erst in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz wieder abschaffen. Wie gehen zivilgesellschaftliche Akteure mit dieser Prekarität um? Welche Rolle spielt Sexual- und Geschlechterpolitik in den aktuellen autoritären Projekten?
Die Krise mit den Männlichkeiten
»Harte Zeiten erfordern harte Männer«, so eine gängige Formulierung. Seit Jahren stehen nicht nur Diskurse von Männlichkeiten im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Krisen im Fokus der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung. Vielmehr richtet sich der Blick verstärkt auf Frauen, im Besonderen in rechten Bewegungen wie beispielsweise der Gruppe Lukreta, wo sie zunehmend wichtige Funktionen einnehmen. Dabei spielen konservative Geschlechterbilder ebenso eine zentrale Rolle wie die Reduktion des weiblichen Körpers auf die Funktion des Gebärens. Männerkörper sollen durch Kampfsport gestärkt und durch selbsternannte »Datingcoaches« einer beständigen Selbstoptimierung ausgesetzt werden. Negative Auswüchse dieser Phänomene kumulieren in der Incel-Subkultur, welche immer wieder in Form von Amokläufen und Femiziden digitalen Frauen-Hass in reale Gewalt verwandelt. Die skizzierten Phänomene verweisen nicht ohne Grund auf die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht für politik- und sozialwissenschaftliche Krisendiagnosen.
Was ist wehrhaft an wehrhafter Demokratie?
Was tun gegen den Zusammenbruch demokratischer Strukturen? Inwiefern sind politische Systeme gegen autokratische Übernahme abgesichert?
Die Bedeutung einer starken Zivilgesellschaft für den Bestand der Demokratie wird immer wieder betont. Zunehmend sehen wir politische Angriffe auf die Legitimität und Finanzierung zivilgesellschaftlichen Engagements, seien es Antirassismusworkshops die pauschal unter Terrorismusverdacht gestellt werden oder Bündnisse die gegen die Asylpolitik von Regierungsparteien demonstrieren. Wie gehen Akteure mit dieser Situation um? Was bedeuten diese Entwicklungen für die Demokratie? Und wie ist Sozialwissenschaft in diesem Konfliktfeld verortet?
Von Bildungsarbeit bis solidarischem Prepping, und der Präfiguration demokratischer Lebensformen, es gibt viele Vorschläge wie Gegeninstitutionen, Heterotopien und konkrete Utopien aussehen können. Die Überprüfung der Stichhaltigkeit solcher Vorschläge, sowie Weiterentwicklung im Falle ihrer Eignung sind das Gebot der Stunde. Commons, vergesellschaftete, geteilte Sphären des solidarischen Miteinanders und zu bestimmende Gegenräume (digital und/oder analog) scheinen prädestiniert für den Widerstand.
All diese Fragen und mehr lassen sich durch sowohl empirische als auch theoretische Untersuchungen von Protestformen, Bewegungen in unterschiedlichen Sphären des Widerstands, seien es Justiz, Kunst oder Wissenschaft, angehen.
Sozialwissenschaft und Politik
Das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte geht in vielen Ländern einher mit einem Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft. Besonders betroffen sind jene Wissenschaftsbereiche, die gesellschaftliche Macht- und Hegemoniestrukturen kritisch beleuchten – aus den Widerständen gegenüber diesen wissenschaftlichen Errungenschaften resultieren häufig konkrete autoritäre Angriffe rechter Kräfte auf progressiv ausgerichtete Forschungsinstitutionen und auf die Rechte betroffener Personengruppen. Besonders unter Druck geraten ist die Wissenschaftsfreiheit letztes Jahr durch die Interventionen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Hierzu kommen die prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft. Diese Situation kulminiert nicht nur in einer Abwertung wissenschaftlicher Forschungsexpertise, sondern auch in einer Ohnmacht von Wissenschaftler*innen, bei negativer Überpolitisierung von Themen wie Asyl und Migration, Klimakrise oder Geschlecht qualifiziert zu intervenieren.
Wie kann die Wissenschaft diesen Angriffen begegnen? Kann politische Bildung einer Emotionalisierung von Policy Issues durch rechte Akteure entgegenwirken? Oder braucht es vor dem Hintergrund des Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte und dadurch zunehmender Wissenschaftsfeindlichkeit neue Formen der politischen Bildung? Gibt es empirische Erkenntnisse über politische Interventionen in der Wissenschaft?
Klimakollaps
Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels erscheint immer unwahrscheinlicher. Die Folgen dieser existenziellen Krise sind seit vielen Jahren Teil der Lebensrealität der Menschen im globalen Süden. Mittlerweile sind Dürren, Hitzewellen, Waldbrände und Überschwemmungen auch in Europa ein wiederkehrendes Phänomen. Mit der Klimakrise verschärfen sich die bereits bestehenden sozialen und politischen Krisen. Besonders in urbanen Räumen werden diese Polykrisen sichtbar: Sozioökonomisch benachteiligte Stadtquartiere sind überproportional von den Folgen betroffen. Die ungleiche Betroffenheit von Klimawandelfolgen verweist auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und struktureller Ungleichheiten, die durch globalisierte Wertschöpfungsketten und den fossilen Kapitalismus verschärft werden.
Zugleich zeigt sich, dass die Leugnung des Klimawandels und ökologische Diskurse innerhalb rechter Ideologien an Bedeutung gewinnen – sei es in Form des Ökofaschismus oder als Fortsetzung kolonialer extraktivistischer Strukturen. Im Zentrum des Themas stehen Mensch-Naturverhältnisse im Kapitalismus und Begriffe wie Resilienz und Adaption sowie die Governance-Technologien und biopolitischen Regime die sie implizieren.
Bundestagswahl 2025
Die Themen des Zusammenbruchs lassen sich natürlich auch an der Bundestagswahl untersuchen. Welche Rolle spielten Social Media, die Massenproteste gegen die Asylpolitik der CDU sowie den Tabubruch der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD und die politische Einflussnahme durch Elon Musk und J.D. Vance? Was bedeutet die sich abzeichnende Radikalisierung von Teilen der Unionsparteien für die Zukunft unserer Demokratie?
Und in welchem Verhältnis stand die Bundestagswahl zu dem parallel in den USA beginnenden autoritären Staatsumbau? Zu diesen und anderen Fragen können Beiträge mit qualitativen wie quantitativen Untersuchungen versuchen, Antworten zu geben.
Die Zukunft des Sozialstaats
Welche Spielräume bestehen rein ökonomisch inmitten des Umbruchs? Welche finanzpolitischen Fallstricke und steuerpolitischen Hürden sind zu nehmen? Die Verrentung der (Baby-)Boomer wirft in Deutschland wie andernorts massive Finanzierungsprobleme auf. Wie entwickelt sich eine auf Rentner*innen zugeschnittene Gesellschaft, die ihr Gespür für junge Menschen verliert, Sozialausgaben für marginalisierte Gruppen zurückfährt, Kinderarmut verschärft und die jüngere Bevölkerung in Wahlentscheidungen strukturell benachteiligt? Droht das Ende liberaler Sozialstaatlichkeit?
In diesem Zusammenhang sind weitere Minderheiten zu nennen, die drohen, Sparzwängen zum Opfer zu fallen: Bürgergeldempfänger*innen und Asylsuchende. Zeichnet sich eine Bevölkerungspolitik ab, die um das alte faschistische Feindbild unproduktiver Esser organisiert ist? Leistet das Primat der Flexibilisierung und Aktivierung der Arbeitssubjekte für den Arbeitsmarkt unseren Demokratien einen Bärendienst, indem es Restbestände solidarischen Gemeinsinns unterminiert? Leben wird nicht nur unterschiedlich, sondern immer rücksichtsloser und härter gewichtet wie gegeneinander ausgespielt. Welche Möglichkeiten bestehen, diesem Verfall entgegenzuwirken?
Wann und Wo?
05.-07. September 2025
Ruhr-Universität Bochum