Ein Gastbeitrag von Manuela Nothacker (Johannes Gutenberg Universität Mainz)
Politische Bildung kann in Deutschland auf eine lange Geschichte zurückblicken. Sie wurde nach dem zweiten Weltkrieg durch die Alliierten in Deutschland initiiert, welche dadurch einen demokratischen Neuanfang in Deutschland erreichen wollten. Doch dieses Verständnis wandelte sich von einer von den Alliierten mit missionarischem Eifer vorangetriebenen Indoktrination (vgl. Mambour 2007: 21ff.), zu „eine[r] eigenständige[n] Auseinandersetzung der Lernenden mit Politik“ (Mambour 2007: 80). Diese eigenständige Auseinandersetzung ist bis heute Teil des Wesens und des Selbstverständnis politischer Erwachsenenbildung.
Dabei liegen Grundlage und Zielrichtung der politischen Bildungsarbeit in Immanuel Kants Gedanken zur Aufklärung begründet:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Erschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapereaude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Kant in Zwick 2009: 73).
Politische Bildung wird also als „Gegenteil von Agitation, Indoktrination und Manipulation“ gesehen (Hufer 2014: 234) und darin „Mündigkeit und Selbstbestimmung [als] unverzichtbare Prinzipien“ (ebd.) erlebt.
Dies macht es möglich, Demokratie einerseits als politisches System, andererseits aber auch als Form ganz alltäglichen gesellschaftlichen Handelns zu begreifen und Menschenrechte und die damit einhergehende Ablehnung von Diskriminierung und eines totalitären Herrschaftssystems zu befürworten (vgl. Hufer 2014: 233). Dabei seien zwei Fähigkeiten von elementarer Bedeutung, um den, in der heutigen Gesellschaft, unbegrenzt gewordenen Möglichkeiten an Lebensentwürfen, Handlungsmechanismen und der unübersichtlichen Informationsfülle Herr werden zu können (vgl. Hufer 2014: 233). Diese Fähigkeiten sind, politisch und gesellschaftlich urteilen zu können. Doch diese sind nicht von Beginn an im Menschen verankert. Die Einsicht, dass kein Mensch als Demokrat geboren wird, welcher sich aktiv in die Gesellschaft einbringt und mündig im Kant’schen Sinne ist, hat zur Konsequenz, dass der Mensch erst geformt werden muss. Auch das Verständnis dafür, dass die Demokratie als „Lebens-, Gesellschafts- und Regierungsform keine Selbstverständlichkeit darstellt“ (Scheidig, 2014: 36) wird nicht angeboren, sondern durch Erfahrungen reflektiert und erlernt.
Diese Formung, Erfahrungserkenntnis und Reflektion soll in der politischen Bildungsarbeit gewährleistet werden. Durch sie kann ein kritisches Denken über die gesellschaftlichen Zustände und die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft stattfinden. Durch die Befähigung der Bürger, in der Gesellschaft zu partizipieren und durch die Motivation, stets zur Stärkung des bestehenden Gemeinwesens zu agieren (vgl. Scheidig, 2014), trägt die politische Bildungsarbeit zentrale Funktionen „für das Individuum, die Gesellschaft und das politische System“ (Scheidig 2014: 36).
Politische Bildung als demokratische Mittel der Aufklärung
Sinn politischer Bildung ist es, alle Menschen dazu zu befähigen, am öffentlichen Leben teilzunehmen und die Erkenntnis im Menschen hervorzurufen, dass das Handeln des Einzelnen abhängig ist vom Erhalt und der Weiterentwicklung einer funktionierenden Demokratie (vgl. Sander 2005: 339). Dafür müssen die Bürger dieser Gesellschaftsform zustimmen, was nur geschehen kann, wenn sie politisch aufgeklärt sind. Politische Bildung schafft diese Aufklärung.
Politische Bildung sorgt außerdem dafür, dass ein Wettbewerb zwischen Parteien und Organisationen möglich ist. Erst durch die aufklärerische, kritische Bildungsarbeit kann sie Unterschiede zwischen diesen aufdecken und die Bürger zum Nachdenken anregen (vgl. Hufer 2004: 245).
Doch
„Employability, Qualifikationen und berufliche Kompetenzen (…) individuell, gesellschaftlich und bildungspolitisch seit geraumer Zeit mehr wertgeschätzt als traditionelle Bildungsziele wie Emanzipation und Mündigkeit“ (Scheidig 2014: 36).
So entstehe ein Bildungsmarkt, der sich an den Kunden und derer beruflichen Weiterbildung orientiert und den eigentlichen Gedanken der politischen Bildung in Vergessenheit geraten lässt. Die „Kosten-Nutzen-Bilanz“ (Scheidig 2014: 26) fällt für dieses Produkt negativ aus. Scheidig ist der Meinung, dass
„berufliche und politische Bildung (…) zweifelsohne beide eminent wichtig [sind] und (…) nicht gegeneinander ausgespielt werden [dürfen], zugleich aber sind bildungspolitisch tolerierte (wenn nicht gar forcierte) Einseitigkeiten in der Finanzierung, ideellen Förderung und öffentlichen Wertschätzung zu verhindern, wenn man das Lernen im Erwachsenenalter tatsächlich in mehreren Facetten ermöglichen möchte“ (Scheidig 2014: 36).
Einige Vertreter der politischen Erwachsenenbildung, zum Beispiel Karsten Rudolf und der Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung Ekkehard Nuissl, fordern deswegen einen Paradigmenwechsel in der politischen Erwachsenenbildung. Dieser solle sich dem Wandel der modernen Gesellschaft anschließen und sich mehr am Markt orientieren (vgl. Hufer 2004: 249). Somit bestehe die Hoffnung, eine höhere Teilnehmerquote in den Angeboten der politischen Erwachsenenbildung zu erreichen und sich damit aus der Legitimationskrise des Faches befreien zu können.
Der kritische Bürger als Resultat der Erwachsenenbildung?
In der 2002 und 2003 von Karsten Rudolf veröffentlichen Wirkungsstudie zur politischen Bildungsarbeit, versucht er herauszufinden, wie politische Bildung auf die Bürger wirkt, wie sie angenommen wird und welche Faktoren eine Rolle spielen, um noch mehr Bürger für die politische Bildungsarbeit begeistern und erreichen zu können.
Der Kern seiner Forderungen entspringt der Annahme, dass mehr Bürger Teilnehmer an politischen Bildungsveranstaltungen wären, würde das Angebot ihren Wünschen und Nachfragen entsprechen. Auch eine Über- beziehungsweise Unparteilichkeit der Träger und Organisationen der politischen Bildung würde dazu beitragen, mehr Teilnehmer zu gewinnen. Tatsächlich, so meint Rudolf, würde man es so schaffen, „über 38 Prozent der Bevölkerung für den Besuch von Veranstaltungen der politischen Bildung [zu] gewinnen“ (Rudolf 2002: 213). Zwei Gegendarstellungen, die Ahlheim dazu formuliert, seien hier aufgegriffen: Zum einen weist Ahlheim auf die Frage hin, wie man mit vorherrschenden Ressentiments umgehen sollte. Fast bedarf es einer „pädagogischen Zwangsmission“ (Ahlheim 2003: 36), um solchen Ressentiments, egal welcher Couleur, entgegenzutreten. Damit kann eine nachfrageorientierte politische Bildung nicht mehr funktionieren (vgl. ebd.: 35f). Dies räumt auch Rudolf ein (vgl. Rudolf 2003: 53).
Zum anderen weist Ahlheim darauf hin, dass Bildungsangebote, welche durchaus parteilichen, religiösen oder weltanschaulichen Werten entspringen, durchaus attraktiv für bildungswillige, erwachsene Bürger seien. So entstehe eine große Vielfalt, aus der jeder das Angebot aussuchen könne, welches er gerne wahrnehmen würde (vgl. Ahlheim 2003: 40). Dabei könne er sich seine eigene Meinung zu einem bestimmten Thema bilden, ohne gleich einer Manipulation der jeweiligen Wertehaltung ausgesetzt zu sein.
So fördere eine politische Erwachsenenbildung, die von den Kommunen anstatt vom Markt gelenkt werden würde, nicht nur die Pluralität, sondern auch das Verantwortungsbewusstsein unter den Bürgern. Eine vom Markt gelenkte politische Erwachsenenbildung hingegen fördere „zwar vieles (…), aber das Marktkritische eben nicht“ (Ahlheim 2003: 49).
Ahlheim kritisiert Rudolf deshalb so stark, weil der in dessen Überlegungen zur Weiterentwicklung der politischen Erwachsenenbildung in Richtung des Marktes, einen Angriff auf den Begriff der politischen Bildung sieht. Dieser werde bei Rudolf „reduzier[t] und banalisier[t], bis zur Unkenntlichkeit ‚entgrenzt‘ (…) letztlich aufgelöst“ (Ahlheim 2003: 37f).
Diskussion um die Rahmenbedingungen
Viele Kritiker sehen diese Entgrenzung bereits gegeben und finden den Beweis in unserer Gesellschaft, in welcher der Mensch zur Spielfigur in einer zunehmend betriebswirtschaftlich orientierten Umwelt wird. Dies hat zur Folge, dass eine zunehmende Ökonomisierung der Bildung voranschreitet (vgl. Borst 2014). „Diese Tendenz hat sich mittlerweile auf fast alle gesellschaftliche Teilbereiche ausgeweitet“ (Hufer 2004: 251), wobei „in der Erwachsenenbildung (…) besonders deutlich wahr[ge]nommen“ (ebd.) wird, dass dadurch ein Paradigmenwechsel impliziert wird. So wird aus dem Ansatz des lebenslangen Lernens „vielmehr eine lebenslängliche Qualifizierung“ (ebd.) anstatt eine „lebensbegleitende politische Bildung“ (ebd.). So findet eine Fixierung fast jeder Weiterbildung auf die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit statt, in welcher der Nachweis von erworbenen Kompetenzen, anstatt der persönlichen Entwicklung zu mündigen Bürgern, im Vordergrund steht.
Durch eine Orientierung am Markt könnte zwar eine Erhöhung von Teilnehmerzahlen erreicht werden und damit ein Ende der Legitimationskrise des Fachs in Reichweite rücken, doch was bei einer Marktorientierung vollkommen unter den Tisch fallen würde, wären die Angebote, welche zum Abbau von Ressentiments beitragen würden. Diese würden nicht mehr Zustandekommen, denn wer setzt sich schon gerne mit den eigenen Vorurteilen auseinander; wer versetzt sich freiwillig in die Lage, seinen eigenen Ressentiments gegenüber zu treten? Auf Grund der anhaltenden Diskussion um ihre Legitimität muss sich die politische Bildung in Gegenwart und Zukunft mit Fragen und Herausforderungen auseinandersetzen, die zukunftsweisend sind und ihr einen starken Standpunkt im Sektor der Weiterbildung verschaffen können.
In der Diskussion um mögliche Lösungen für eine zukunftsweisende politische Bildung, darf niemals vergessen werden, dass die Menschen in einer Gesellschaft Raum brauchen für Diskussionen, Erarbeitung von Perspektiven(-wechsel) und Auseinandersetzungen mit Themen unserer schnelllebigen, globalisierten und individualisierten Wissensgesellschaft. Politische Bildungsarbeit kann diesen Rahmen gewähren, in dem sie Rahmenbedingungen schafft, in welchen die Bildung einer eigenen Meinung entstehen kann und der Mensch die Möglichkeit bekommt, aufgeklärt(er) zu werden.
Doch auch die neuen Formen politischer Bildung dürfen dabei nicht vernachlässigt werden. Hier steht vor allen Überlegungen die Frage, ob politische Bildungsarbeit nicht auch im virtuellen Raum entstehen kann und muss. Vielleicht müssen die Teilnehmenden nicht immer körperlich anwesend sein, um sich weiterbilden zu können.
Schlussendlich bringt ein Zitat des Arbeitskreises deutsche Bildungsstätten e.V. die Problematik auf den Punkt: „[Politische Bildung] ist keine Ware auf dem freien Markt, sondern gehört zum Grundbestand des Rechts auf Bildung in einer Demokratie“ (Arbeitskreis 2004: 60).
Literatur
- Ahlheim, Klaus (2003): Vermessene Bildung? Wirkungsforschung in der politischen Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts.: WOCHENSCHAU Verlag (Didaktische Diskurse. Politische Bildung.)
- Arbeitskreis deutsche Bildungsstätten e.V. (2004): Politische Bildung als Dienstleistung an der Demokratie erhalten! In: Außerschulische Bildung- Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, 1-2004 (Politische Bildung als öffentliche Aufgabe: Perspektiven und Optionen), S. 59–61.
- Bilger, Frauke (2013): Weiterbildungsverhalten in Deutschland. Resultate des Adult Education Survey 2012. Bielefeld: Bertelsmann (Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung).
- Borst, Eva (2014): Theorie der Bildung. Eine Einführung. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren (Pädagogik und Politik, 2).
- Hufer, Klaus-Peter (2004): Demokratie braucht politische Bildung- braucht sie auch die Erwachsenenbildung? In: Siegfried Schiele Gotthard Breit (Hg.): Demokratie braucht politische Bildung. Schwalbach/Ts.: WOCHENSCHAU Verlag, S. 243–256.
- Hufer, Klaus-Peter (2014): Politische Bildung in der Erwachsenenbildung. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch. Politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.: WOCHENSCHAU Verlag, S. 231–237.
- Mambour, Gerrit (2007): Zwischen Politik und Pädagogik. Eine politische Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
- Rudolf, Karsten (2002): Bericht politische Bildung 2002. Was wollen die Bürger? Eine Marktanalyse zur außerschulischen politischen Bildung in Deutschland. 2 Bände. Büdingen/H.: Institut Junge Bürgergesellschaft (IJBG) (2).
- Sander, Wolfgang (Hg.) (2014): Handbuch. Politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts.: WOCHENSCHAU Verlag.
- Scheidig, Falk (2014): Standpunkt: Vom Bedeutungsverlust zur Bedeutungslosigkeit? Neun Thesen zur Situation politischer Erwachsenenbildung. In: forumerwachsenenbildung. profiliert- kompetent- evangelisch. 47, 2/2014 (Politische Bildung im Erwachsenenalter), S. 36–38.
- Zwick, Elisabeth (2009): Spiegel der Zeit – Grundkurs Historische Pädagogik III. Renaissance bis Gegenwart. Berlin: LIT Verlag (Einführungen : Pädagogik, 5).